Exilerfahrung der türkischen Journalistin Şehbal Şenyurt Arınlı
Z usammenfassend ist die Lage folgendermaßen: Ihre Arbeit ist mit Wörtern; ihre Wörter wurden ihnen gestohlen! Ihre Welt besteht aus Wörtern; sie wird anhand von Wörtern aufgebaut und anhand von Wörtern abgebaut. Sie spielen mit den Wörtern und erfi nden somit neue. Sie ernähren sich durch deren Echo und beginnen erneut zu laufen. Sie versuchen, das Leben mithilfe von Wörtern zu verändern: Ungerechtigkeiten, Kritikäußerungen, Widerstände …
Sie erzählen die erträumte Welt mit Worten, die Wörter erhalten nur in der eigenen Welt eine Bedeutung und berühren niemand anderen! Es scheint – für eine längere Zeit – unmöglich zu sein, auf das Gesagte eine Antwort, ein Echo, zu erhalten! Ausdruckslosigkeit! Mehr oder weniger ist das Leben einer Journalistin im Exil dementsprechend! In dieser Ausdruckslosigkeit muss man sich »Arbeit« suchen. In einem Bereich, dessen Sprache man nicht beherrscht, natürlich nicht in der Branche des »Schreibens« – was auch immer einem begegnet! Auf der einen Seite versucht man vom eigenen Standpunkt aus, wenn möglich, etwas für das eigene Land zu tun, das man verlassen hat. Auf der anderen Seite schreibt man vor sich hin und sammelt: Wenn man die Gelegenheit fi ndet, den neu eingeschlagenen Weg des Heimatlandes kennenzulernen, in einer Phase, wo man mühevoll eine neue Sprache lernt, was zeit- und kraftintensiv ist. In Befürchtungen, ob man das neue Land auch verlassen wird oder nicht. Zwischen einer Menge Fragen, einer Menge Unklarheit … Wie das Schwingen des Pendels einer Uhr verstreichen die Tage – vor allem in hohem Alter!
Es kommt mir gesünder vor, mich auf die Themen, die mir nahe stehen, zu fokussieren und meine wirklichen Grenzen Stufe für Stufe zu überwinden
Selbstverständlich gibt es Bereiche, in denen man in der Muttersprache schreiben kann. Einer der zur Auswahl stehenden ist vielleicht das praktischste, einfachste oder sinnvollste – selbstverständlich weiterhin mit dem Fokus auf die Probleme des Herkunftslandes. Es sind weiterhin Tätigkeiten und Arbeiten fortzuführen, ohne die eigene Sprachfamilie zu wechseln. Häufi g wird diese Methode bzw. dieses Gebiet gewählt. Es ist keine so gesunde Methode, über andere Lebensweisen zu sprechen, ohne diese Erfahrung gemacht zu haben. Hierbei ist es egal, wie sehr die Technologie fortgeschritten ist, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, jedes Detail aus der Ferne erforschen zu können. Auf der anderen Seite: Die Probleme des Ortes, in dem ich mich befi nde, interessieren mich genauso sehr wie die Probleme meines Herkunftslandes, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Es kommt mir gesünder vor, mich auf die Themen, die mir nahestehen, zu fokussieren und meine wirklichen Grenzen Stufe für Stufe zu überwinden. Aus diesem Grund scheint es mir sinnvoller zu sein, das neue Land zu erkunden, die Möglichkeiten zu entdecken und für den Ort, an dem ich mich befi nde, etwas zu tun. An diesem Punkt wird der schwerwiegende Zustand ersichtlich: Sowohl sprachlich als auch durch den Umstand, noch keine sozialen Kontakte in Bereichen des eigenen Interesses geknüpft zu haben. Dadurch ist die intellektuelle »Ernährung« nicht möglich! Dadurch ist es unvermeidbar, dass das Erlernen der Sprache des neuen Landes in den Vordergrund rückt, um wenigstens aktuelle Ereignisse und Debatten zu verstehen und zu verfolgen. Und das bedeutet, achtfach mehr lernen! Wenn man einen gewissen Punkt erreicht hat, spricht man zu sich selbst: »Ach, jetzt könnte ich in einer Branche arbeiten, die meinem Arbeitsbereich bzw. meinen Erfahrungen am nächsten ist!« Nun beginnt man zu handeln. Man fängt an, die eigenen Möglichkeiten aufzulisten: Die verfassten Geschichten, die neuen Schreibpläne … Die Probleme des Übersetzens …To-do-Listen … Von dem, was man machen möchte, was man machen kann; Listen von dem, was man erreichen möchte, was man erreichen kann … Pläne … Projekte, die auf der einen Seite die Menschen des Herkunftslandes betreff en, auf der anderen Seite Projekte, die die Mitmenschen im neuen Land tangieren … das Sortieren zwischen utopischen und realitätsnahen Zielen … die Mühe, die notwendigen Stellen zu erreichen … Häufi ges Scheitern, Enttäuschungen … Sich erneut sammeln und nochmals Anfänge starten … Ich konnte für mich, mit meiner vorherigen Europa- und Berufserfahrung, meiner Zweitsprache Englisch und durch die Unterstützung während meiner Anfangszeit durch das PENZentrum Deutschland im Rahmen des Projektes »Writers in Exile« meine ersten Traumata überwinden. Für diese Unterstützung bin ich unendlich dankbar. Selbstverständlich kommen Probleme mit ihren Lösungen – für uns Menschen aus schwierigen Verhältnissen: Wenn man entschlossen und bereit ist, sich Mühe zu geben, muss man verschiedene Möglichkeiten aussortieren und Entscheidungen treff en – und die Stimmung hochhalten, der Erschöpfung alle Türen schließen!
Şehbal Şenyurt Arınlı ist Dokumentarfilmerin, Menschenrechtsaktivistin und Journalistin. Sie engagiert sich für die Rechte von Frauen und Minderheiten in der Türkei. Dafür wurde sie angeklagt und inhaftiert. Nach ihrer Freilassung lebt sie in Deutschland und ist Writers-in-ExileStipendiatin des deutschen PEN Zentrums
WRITERS IN EXILE PROGRAMM
Das Writers-in-Exile Programm ist ein Stipendienprogramm des deutschen PEN-Zentrums für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in ihren Heimatländern verfolgt, malträtiert, eingekerkert oder gar gefoltert wurden. Die Stipendiaten erhalten für ein, zwei oder höchstens drei Jahre eine möblierte Wohnung, ein monatliches Stipendiengeld, eine Krankenversicherung, werden beschützt und beraten. Das von Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien fi nanzierte und beim PEN-Zentrum angesiedelte Programm unterstützt gefl üchtete Schriftstellerinnen und Schriftsteller beim Start in ein neues Leben fern ihrer Heimat und ermutigt sie, ihre Arbeit fortzusetzen, sobald sie sich von den erlittenen Strapazen halbwegs erholt haben. Das PEN-Zentrum veranstaltet Lesungen, organisiert Übersetzungen und stellt Kontakt zu Redakteuren und Verlegern her. Mehr Informationen unter: http://www.pen-deutschland.de
Veröffentlicht bei: Politik&Kultur Nr. 6/19-Juni 2019 Seite: 20