Einige Anmerkungen zu den Hungerstreiks und zum sog. „Todesfasten“ in türkischen Gefängnissen

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Haftbedingungen zu begreifen, sich in sie hineinzufühlen ist schwer. „Unmöglich für die, die es nicht erlebt haben“, heißt es. Gefängnisse gehören zu solchen Orten, auf die dies zutrifft. Erst recht, wenn es sich um Gefängnisse in einem Land wie der Türkei mit einem als „moderate Autokratie“[1] eingestuftem Herrschaftssystem handelt. Und ganz besonders, wenn es um Gefängnisse in einer Autokratie unter den Verhältnissen einer Pandemie geht! Wenn du im Gefängnis sitzt, einzig und allein, weil du dich für demokratische Verhältnisse in deinem Land eingesetzt hast … wenn du Anschuldigungen unterworfen bist, die jeder Grundlage entbehren, für die keine Indizien und Beweise vorgelegt werden, wenn du es mit gekauften Zeugen zu tun hast, und die Anklageschrift ausbleibt …

Wenn du über Jahre als Geisel genommen wirst, im Visier eines Regimes stehst, das „Vergeltung“ will … dann wird es schwer, deine Tage im Gefängnis nachzuempfinden! Von den Bedrückern wird jeden Tag etwas Neues auf die Agenda gesetzt. Die Verteidiger demokratischer Rechte wissen nicht mehr, mit welchem täglich neuen Rechtsbruch, welchem Gewaltakt, welcher Repression sie sich jetzt gerade befassen sollen … Verstandesblockaden … in Schleudern geraten. Das Schweigen der Leute draußen bohrt sich einem wie ein Nagel ins Fleisch, wenn man drin sitzt. Draußen ist von Recht und Gerechtigkeit keine Rede mehr, alles ist bereits gesagt, alle reden nur noch hinter vorgehaltener Hand. Drinnen bleibt dir deine nackte Haut. In einer solchen Situation wählen manche den Hungerstreik … als letzten Ausweg, letzten Aufschrei.

Hungerstreiks – zunächst mit Unterbrechungen, dann unbefristet unter Einsatz des Lebens – sind eine in der Türkei häufig angewandte Form des öffentlichen Widerstands. Regierungen geben sich unbeeindruckt. Politischen Organisationen gelingt es nicht, andere Lösungen zu finden. Ein Mensch nach dem anderen lässt sein Leben … allseits Gewissensnot … Gedenkfeiern jährlich zum Todestag, sonst aber rasches Vergessen … Wunden verkrusten schnell … zurück zu den Dingen des Alltags.

Dennoch, es handelt sich um Widerstand. Der Mensch lehnt sich eben auf! Gegen Unrecht und Rechtlosigkeit … unter Verlust seines Lebens oder am Leben und ungebeugt bleibend.

Die Verteidiger demokratischer Rechte in der Türkei haben sich in diesen Tagen neben zahlreichen anderen anti-demokratischen Vorgängen auch wieder mit Hungerstreiks in Gefängnissen auseinanderzusetzen. In den vergangenen Wochen haben zwei Mitglieder der nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 gegründeten Band „Grup Yorum“, die ihre oppositionelle Haltung einzig und allein mit den Mitteln der Musik und durch ihre Lieder zum Ausdruck gebracht hat, ihr Leben durch ihren Hungerstreik verloren: Helin Bölek starb am 288. Tag, İbrahim Gökçek am 323. Tag ihres Streiks. Sie hatten gefordert, Verbote ihrer Konzerte aufzuheben, Polizeiüberfälle auf ihr Kulturzentrum zu unterlassen und festgenommene Bandmitglieder auf freien Fuß zu setzen.

Singen wollten sie, nur singen. Folksongs und Protestlieder haben in der Türkei eine lange Tradition und verbinden Widerstände miteinander. Das Erdoğan-Regime, das solches Liedgut fürchtet, hat diese jungen Musiker ins Grab gebracht, gesungen wird jedoch weiter.

Mustafa Koçak starb im Alter von 28 Jahren am 297.Tag seines Hungerstreiks. Er wog nur noch 29 Kilo. Er war gefoltert worden und ist aufgrund von Aussagen eines anonymen Belastungszeugen, die dieser später als Lügen eingestanden hat, zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er hatte eine Wiederaufnahme seines Strafverfahrens und eine gerechte Verhandlung erreichen wollen.

Aktuell befinden sich zwei inhaftierte Rechtsanwälte im Hungerstreik und fordern ein faires Verfahren: der Anwalt Aytaç Ünsal im Gefängnis von Burhaniye seit 112 Tagen, die Anwältin Ebru Timtik im Gefängnis von Silivri seit 143 Tagen. Zivilgesellschaftliche Verteidiger demokratischer Rechte sind in diesen Fällen gezwungen, die Institution der Verteidigung zu verteidigen. Im Frauengefängnis İzmir Şakran befinden sich Didem Akman und Özgür Karakaya seit 96 Tagen im Hungerstreik und fordern ein gerechtes Verfahren.

Erinnert sei an die HDP-Abgeordnete Leyla Güven, die im vergangenen Jahr einen Hungerstreik für die Aufhebung der absoluten Isolation von Abdullah Öcalan durchgeführt hat, der seit 1999 auf der Insel İmralı inhaftiert ist. Leyla Güvens Hungerstreik und ihrer Forderung haben sich hunderte Menschen in der Türkei und verschiedenen europäischen Ländern angeschlossen. Der gesellschaftliche Druck aus allen Teilen der Welt hat das Erdoğan-Regime veranlasst, einzulenken. Ein Besuch wurde zugelassen, auf Wunsch Öcalans wurde die Hungerstreikkampagne beendet.

In der Türkei gab es schon früher Perioden, in denen sich hunderte Menschen mit einem Hungerstreik auf ein Kräftemessen mit Regierenden eingelassen haben.

Das sog. „Todesfasten“, wie wir es in der Türkei erleben, ist ein vielschichtiges Phänomen. Es lässt sich mit soziopolitischen, sozialpsychologischen, kulturellen und religiösen Gegebenheiten deuten. Um es zu begreifen, bedarf es einer Betrachtung der Sichtweise der Völker der Türkei, Mesopotamiens und des Nahen Ostens auf die Leben-Tod-Leben-Zyklen und des traditionell unterdrückerischen Wesens der Machtmechanismen, das selbst der kleinsten Opposition keinen Raum lässt, und des reaktiven Wesens der Widerstandsinseln in politisch ausweglosen Situationen und ihrer strukturellen Hilflosigkeit, die mit der von ihnen abgelehnten Autorität Ähnlichkeiten aufweist. Kurz, es bedarf interdisziplinärer Analysen, die ihren Anfang in der Anthropologie nehmen und über den Umweg der Soziologie ins Politikwissenschaftliche hineinreichen.

Du wirst geboren, du lebst, du stirbst … du wirst geboren, du lebst, du stirbst … Jeder Lebensabschnitt ist von großem Wert, aber kein Abschnitt wertvoller als die anderen! Von diesem Gedanken aus kommst du zu der Frage, wie du in dem kurzen Abschnitt deines Daseins gelebt hast. In der mit Idealen angefüllten Welt der Sinngebung beanspruchst du einen Platz. Herrschende schreiben ihrer Repression einen „Sinn“ zu, Verfolgte ihrer Auflehnung. Wie es in allen Gesellschaften dieser Welt der Fall ist. In Ländern mit effektiven Unterdrückungsmechanismen unternehmen Unterdrückte alles Mögliche dagegen und tragen, wenn nichts mehr geht, ihre Haut zu Markte. Was gibt es noch zu verlieren? Ein Leben! Solidaritätsnetzwerke machen sich zunächst noch stark, sind dann wiederum äußerst verängstigt und nicht da. Wer sich aufgelehnt hat, vereinsamt. Es beginnt ein Teufelskreis. Einmal darin gefangen, wird Widerstand bis zum Tod wie ein Ausweg daraus verherrlicht. Irgendwo an diesem Punkt kommt unreflektiert der Faktor Religion zum Tragen. In den Stand eines „Märtyrers“ aufsteigen! Wenn Herrschende und Widerständler dem Begriff auch ganz unterschiedliche Dinge aufladen, im Grundsatz verweist er auf das Jenseits. „Ich und mein Denken werden in der idealen Welt/im idealen Geist weiterexistieren!“ Und so kommt es dann auch. Der Teufelskreis reproduziert sich genährt durch seine eigene Fruchtlosigkeit. Klagelieder anstimmen, Gedenkveranstaltungen abhalten, unvergessen bleiben … Zeitabschnitte werden in Mythen über jene gekleidet, die bis zum Tod widerstanden haben. Sie werden zum Thema von Kurzgeschichten, Gedichten und Erzählungen, zu Hoffnungsinseln des Pazifismus. Paradoxerweise zu Hoffnungsinseln derer, die es in ihrem Eintreten für eine gerechtere Welt nicht schaffen, effektivere Widerstandsformen zu entwickeln. Wer diese Verherrlichung verinnerlicht hat, scheut im allerletzten Stadium nicht davor zurück, in den Tod zu gehen. Hier beginnt die innerliche Gewissensbefragung jener, die still geblieben sind, zugeschaut haben und dem Gang der Dinge nichts Effektiveres entgegen zu setzen hatten. „Wo stehe ich in dieser Frage? Wenn ich das Leben verteidige, soll ich einen Todgeweihten mit ‚Geh nicht!‘ umzustimmen versuchen oder jenen, die seinen Gang in den Tod verursacht haben, mit ‚Stop! Es reicht!‘ Einhalt gebieten?“ Eine unerbittliche gesellschaftliche Diskussion setzt ein. Einem Sterbenden ‚Stop!‘ zuzurufen, ist leicht. Machthabern, die seinen Tod verursachen, ‚Das Maß deiner Unterdrückung ist voll!‘ zu sagen, ist schwer. Klar wird einem, wie hoch der Preis dafür sein kann. Man kann sich mit Weltmächten anlegen, ermordet, ins Gefängnis geworfen oder ins Exil getrieben werden. Noch schmerzhafter ist es in Betracht zu ziehen, dass man von Unterdrückten selbst ausgegrenzt und allein gelassen wird. Es gilt die Welt, die Gesellschaft und ihren Wandel gut verstehen zu wollen, sich dementsprechend unentwegt neu zu organisieren und Solidaritätsnetzwerke zu stärken. Es gilt – ohne den Unterdrückern der Gegenseite ähnlich zu werden – neue Methoden des Widerstandes zu entwickeln, die ihre Kraft aus dem Leben und nicht aus dem Tod beziehen. Es fängt damit an, die eigene Fähigkeit ausbauen, auch denen zuhören zu können, die anders sind als du. Aus neuen Formen des Widerstands eine Tradition entstehen zu lassen, darauf läuft es hinaus. Das ist schwer, äußerst schwer!

Man macht es sich zu einfach und führt in die Irre, wenn man sagt, die in den Tod gegangenen hätten nicht nachgedacht, seien betrogen worden, hätten ihr Leben nicht wichtig genommen, oder hätten gar im Wahn ein Held zu werden, keinen Schmerz verspürt. Wir müssen tiefgründige Diskussionen über das gesellschaftliche Gefüge, uns selbst und unsere Schaulust führen. Unser Beitrag, Methoden zu entwickeln, diese Leute am Leben zu erhalten, kann darin bestehen, ihnen zuzuhören, ihre Forderungen zu verstehen und mit jenen Stellen in Kontakt zu treten, die sie selbst nicht ansprechen können.

Die Verteidiger demokratischer Rechte und des Lebens in der Türkei und der Welt werden durch diese Hungerstreiks erneut auf die Probe gestellt.

Wo stehen wir?

Şehbal Şenyurt Arınlı / Nürnberg, 20.05.2020

(Übersetzung: Harald Schüler, Susanne Schneehorst)


[1] So typisiert in: Donner, Sabine: BTI 2020: Widerstand gegen Demokratieabbau und autoritäre Herrschaft wächst — Globale Entwicklungen Demokratie, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2020.

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